
VUCA, BANI & The New Normal
Über Zeitrechnungen und ihre Beschreibung
Es gibt inzwischen viele Begriffe und Akronyme, die versuchen den derzeitigen Zustand der Welt zu beschreiben. Einer von ihnen, VUCA (Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity), hat inzwischen seinen Weg in die Quartalspräsentationen von deutschen Mittelständlern gefunden. Dabei ist der Begriff ursprünglich dem Jargon des US-Militärs nach dem Ende des Kalten Krieges entsprungen und hat in den Zweitausendern den Sprung von Westpoint in die Wirtschaft geschafft. Er ist damit nicht der erste Begriff, der seinen Ursprung im Militärjargon hat. „Offensiven“, „Target“, „Boot Camp“ oder Begriffe wie „War-time CEO“ sind—ob zum Guten oder Schlechten—schon länger Teil der internationalen Business-Lingo1.
↳ Quelle: trends.google.de/trends/explore?date=today%205-y&q=%22the%20new%20normal%22,VUCA
Mit dem Beginn von 2020 und der globalen Covid-19 Pandemie gewannen jedoch zwei neue Begriffe an Popularität: „The New Normal“ und BANI. Zweiteres steht, im Geiste von VUCA, für “Brittleness“, „Anxiety“, „Nonlinearity“ und „Incomprehensibility“. Ausdrücke, die die letzten Monate durchaus passend beschreiben, es aber vor allem Beratungsunternehmen ermöglichen auf elegante Art und Weise „wir wissen auch keine Antwort“ zu sagen.
Alles ist außergewöhnlich
All diese Begriffe müssen sich zudem den Vorwurf historischer Blindheit gefallen lassen. Jede Generation ist davon überzeugt in außergewöhnlichen Zeiten mit außergewöhnlichem Wandel und außergewöhnlichen Krisen zu leben. So tragisch die noch immer anhaltende Pandemie auch ist, sie ist schwer mit der Spanischen Grippe oder gar der Pest zu vergleichen. Vor allem, da letztere kein singuläres Ereignis war, sondern die Welt über Jahrhunderte immer und immer wieder heimsuchte. Konstantinopel alleine musste in einem Zeitraum von knapp 100 Jahren mit elf Ausbrüchen kämpfen, die ganze Teile der Stadt entvölkerten2. Ein paar Wochen Lockdown verblassen gegenüber einer ganzen Generation, die in ihrem Leben nichts anderes als Pest-Ausbrüche kannte.
Ich weiß, es ist ein unfairer Vergleich. Die Pandemie ist verglichen mit der nahen Vergangenheit durchaus außergewöhnlich und stellt uns vor neue und zuvor unbekannte Herausforderungen. Wir sollten uns aber trotzdem fragen: Wie außergewöhnlich ist diese Zeit tatsächlich? Ist sie tatsächlich volatiler als das Ende des Kalten Krieges? Ist sie unsicherer? Komplexer? Mehrdeutiger? Business Management war noch nie nicht Komplexität und noch nie keinen Unsicherheiten ausgesetzt. Entsprechend fühlt es sich für mich unehrlich an, das Gegenteil zu behaupten.
Offene Horizonte auf Powerpoint-Folien
Es ist jedoch „The New Normal“, über das wir am meisten nachdenken sollten. Ein Begriff, der trotz seiner hohen Frequenz in Schlagzeilen und internen Mailings kaum definiert ist. Oft wird „The New Normals“, so scheint es, wörtlich verstanden: die neue Normalität von Lockdown, Social Distancing und einer Wirtschaftskrise als Bruch mit der alten, vergangenen Normalität. Ein neue, temporäre Zeitrechnung, die aber eine gewisse Planbarkeit impliziert. Auch „The New Normal“ ist nicht neu. Der Autor Robert Heinlein verwendete ihn bereits 1966 in seinem Roman „The Moon is a harsh Mistress“ um den Übergang zu einer neuen Zeitrechnung zu markieren. Und in Wirtschaftskreisen wurde ein „New Normal“ beinahe jedes Jahrzehnt ausgerufen, wie Catherine Rampell in der New York Times schreibt. Dabei sind ist ein „New Normal“ oft nur ein Ausnahmezustand, kein anhaltender Trend.
This obsession with a “new normal” lends some momentum for the current catastrophe or craze, but nonetheless subsides as things eventually return to their long-run trend.
Im Kontrast dazu bietet das russische Strelka Institut jedoch eine andere, optimistischere Interpretation des Begriffs..
Gegründet als Non-Profit in 2009 mit der Mission, Designer, Architekten und Medienschaffende mit den notwendigen Fähigkeiten und Wissen für das 21. Jahrhundert auszustatten, vereint Strelka in sich eine Summer School, einen Verlag und eine Consulting-Agentur. „The New Normal“ wurde Teil des Instituts mit dem Eintritt von Benjamin Bratton als neuer Programmdirektor in 2016. Als Thema eines dreijährigen Ausbildungsprogramms beschäftigte sich „The New Normal“ mit der Zukunft von Städten im Kontext technologischer, geographischer und ökologischer Komplexitäten. Mit der Wahl von Donald Trump als 45. US-Präsident im Rücken ist Bratton sich der historischen Perspektive durchaus bewusst:
What is the new normal anyway, or better, what should it be? I ask this because much of the new normal doesn‘t seem “new” at all. To the contrary it seems like a nightmarish regurgitation of history-themed vulgarities: stupidity locked in to a long winter‘s ground war against reason. As 2016 is pulled remorselessly on into 2017, we are dumbstruck. Sometimes things are not as they seem (and sometimes they are even more what they are than they appear to be.) To see things new again, strange and marvelous, requires our most adventurous faculties of imagination.
Wo „The New Normal“ heute jedoch gerne als geschlossene Zustandsbeschreibung gedeutet wird, versteht Bratton ihn vielmehr als offene Forschungsfrage und als zu erkundenden und gestaltbaren Raum.
Something has shifted, it seems. We are making new worlds faster than we can keep track of them, and the pace is unlikely to slow. If our technologies have advanced beyond our ability to conceptualize their implications, such gaps can be perilous. In response, one impulse is to pull the emergency brake and to try to put all the genies back in all the bottles. This is ill-advised (and hopeless). Better instead to invest in emergence, in contingency: to map the new normal for what it is, and to shape it toward what it should be.
Es ist eine langfristigere Vision, die aber gleichzeitig die Möglichkeit des Handelns betont. „The New Normal“ ist damit im Kontrast zu VUCA oder BANI nicht normativ. Sie sagt nicht „so ist die Welt und wir müssen uns anpassen“, sondern „etwas verändert sich, lasst uns herausfinden was und es beeinflussen!“. Oder um Bratton noch einmal zu zitieren:
To assume that the future will be like the present — only more so — is a risky bet. The historical evidence is against it.
Es ist eine optimistisch-pragmatische Sicht auf die Welt und ihre Nuancen und damit meiner Meinung nach den Akronymen VUCA und BANI weit voraus. Wäre dieser Begriff nur nicht so schwer zu kommunizieren…
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Ich will an dieser Stelle nicht weiter über die Liebe von (männlichen) Managern zu Militärjargon spekulieren, aber eine „de-militarisierung“ der Alltagssprache in Unternehmen ist durchaus einen Gedanken wert. ↩
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Congourdeau MH. Black Death in Constantinople (1343-1466). Med Secoli. 1999;11(2):377-389 ↩